OLG Hamm zur Haftung bei Unfall mit einem Pedelec

OLG Hamm zur Haftung bei Unfall mit einem Pedelec

80-jähriger Pedelec-Fahrer haftet nach verkehrswidriger Schrägfahrt allein
OLG Hamm 9.2.2015, 9 U 125/15
Bei Verlassen des durch eine durchgehende weiße Linie von der Fahrbahn abgeteilten Radweges in Richtung Fahrbahn sind die erhöhten Sorgfaltspflichten des § 10 S. 1 StVO zu beachten. Das Überqueren dieser Linie entgegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO unter Missachtung der sich aus § 10 S. 1 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten, um unmittelbar anschließend unter Missachtung der weiteren sich aus § 9 Abs. 1 und 4 StVO ergebenden Pflichten zwecks Linksabbiegens zur Straßenmitte zu lenken, rechtfertigt die Alleinhaftung des Radfahrers im Falle der Kollision mit dem nachfolgenden Verkehr.
Der Sachverhalt:
Der seinerzeit 80-jährige Kläger aus Haltern befuhr im Mai 2014 die Recklinghäuser Straße in Fahrrichtung Recklinghausen. Er benutzte den rechts von der Fahrbahn durch eine durchgehende Linie abgetrennten Geh- und Radweg. An der Kreuzung mit der von rechts einmündenden Straße Lippetal beabsichtigte er nach links abzubiegen, um die sich einer Häuserzufahrt anschließende, dem Verlauf des Wesel-Datteln-Kanals folgende Zuwegung zu erreichen. Zu diesem Zweck fuhr er über die durchgezogene Linie in Richtung Fahrbahnmitte.
Auf der Fahrbahn kam es zum Zusammenstoß mit dem Pkw Nissan Micra der erstbeklagten Fahrerin aus Haltern. Der Nissan berührte mit der rechten Ecke des vorderen Stoßfängers das Hinterrad des Pedelec und brachte dieses zu Fall. Der Kläger stürzte und erlitt Prellungen sowie Frakturen im Bereich seines Beckens. Von der Erstbeklagten und der zweitbeklagten Haftpflichtversicherung begehrt er 20.000 € Schmerzensgeld und ca. 500 € materiellen Schadensersatz, u.a. für das beschädigte Pedelec.
Das LG wies die Schadensersatzklage ab. Die Berufung des Klägers hatte vor dem OLG keinen Erfolg. Die Revision zum BGH wurde nicht zugelassen.
Die Gründe:
Den Kläger trifft ein erhebliches Eigenverschulden an dem Zustandekommen des Unfalls, der eine Haftung der Beklagten – auch unter dem Gesichtspunkt der von dem Pkw ausgehenden Betriebsgefahr – ausschließt.
Der Kläger hat die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt. Er hat versucht, ohne die gebotene Rückschau gleichsam blindlinks von dem rechts neben der Fahrbahn verlaufenden Radweg über die gesamte Breite der Straße hinweg in die gegenüberliegende Zufahrt einzubiegen. Um sich verkehrsgerecht zu verhalten, hätte der Kläger bis zum Einmündungsbereich der Straße Lippetal fahren müssen. Dort hätte er die Recklinghäuser Straße im rechten Winkel überqueren müssen, sein Pedelec schiebend oder wie ein aus der Straße Lippetal kommender Verkehrsteilnehmer fahrend.
Bei dem ausgeführten Fahrmanöver hat der Kläger seine Absicht abzubiegen weder rechtzeitig angekündigt noch auf den hinter seinem Rücken herannahenden Verkehr geachtet. Die vom Kläger unvermittelt eingeleitete Schrägfahrt hat dazu geführt, dass das Pedelec auf der Straße in Sekundenbruchteilen ein breites, gefährliches Hindernis gebildet hat. Gegenüber diesem groben Fehlverhalten des Klägers tritt die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs – ein Verschulden der Erstbeklagten am Zusammenstoß ist nicht bewiesen – zurück.
Im vorliegenden Fall kann der Erstbeklagten nicht vorgeworfen werden, sich nicht auf das erkennbar höhere Alter des Klägers eingestellt zu haben. Zwar hat sich ein Fahrzeugführer durch eine Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so zu verhalten, dass einer Gefährdung von Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen ausgeschlossen ist. Dabei erfordert allerdings nicht jeder im Blickfeld eines Kraftfahrers erscheinende Verkehrsteilnehmer aus diesem Personenkreis ein sofortiges Herabsetzen der eigenen Geschwindigkeit.
Eine solche Reaktion ist erst dann geboten, wenn das Verhalten der Person oder die Situation, in der sie sich befindet, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer Gefährdung führen können. Hiervon musste die Erstbeklagte vor dem Unfall nicht ausgehen. Bei ihrer Annäherung an den auf einem abgeteilten und ausreichend breiten Radweg fahrenden Kläger musste sie nicht allein aufgrund des höheren Alters des Klägers damit rechnen, dass der Kläger die konkrete Verkehrssituation nicht gefahrlos beherrschen konnte.
Quelle: OLG Hamm PM vom 21.3.2016