OLG Hamm zur Nutzung eines Radweges entgegen der Fahrtrichtung

OLG Hamm zur Nutzung eines Radweges entgegen der Fahrtrichtung

Mitverschulden wegen Nutzung eines Radwegs entgegen der Fahrtrichtung
OLG Hamm 4.8.2017, 9 U 173/16
Ein Fahrradfahrer behält gegenüber aus untergeordneten Straßen einbiegenden Verkehrsteilnehmern auch dann das Vorfahrtsrecht, wenn er den für seine Fahrtrichtung nicht freigegebenen Radweg benutzt. Der Fahrradfahrer muss sich jedoch ein anspruchsminderndes Mitverschulden entgegenhalten lassen. Der Verzicht auf einen Fahrradhelm begründet auch für einen Unfall aus dem Jahre 2013 keine Anspruchskürzung.
Der Sachverhalt:
Die 1965 geborene Klägerin befuhr im November 2013 mit ihrem Fahrrad die Polsumer Straße in Marl auf einem linksseitigen Geh- und Radweg. Diesem folgte sie auch, als er nur noch für Radfahrer aus der entgegengesetzten Fahrtrichtung freigegeben war. Die Klägerin beabsichtigte, die Einmündung der untergeordneten Straße Im Breil zu queren, um dann nach links in diese Straße einzubiegen.
Der im Jahre 1936 geborene Beklagte befuhr mit seinem Pkw Mercedes die Straße Im Breil und beabsichtigte, an der Straßeneinmündung nach rechts in die Polsumer Straße abzubiegen. Beim Abbiegen kollidierte sein Fahrzeug mit dem Fahrrad der Klägerin. Die Klägerin stürzte auf die Motorhaube, rutsche mit ihrem Rad über die Straße und schlug mit dem unbehelmten Kopf auf der Fahrbahn auf. Mit einem Schädel-Hirn-Trauma, einem Schädel-Basis-Bruch und einer Kniefraktur erlitt sie schwerste Verletzungen.
Von dem Beklagten und seinem ebenfalls beklagten Haftpflichtversicherer verlangt die Klägerin im vorliegenden Rechtsstreit Schadensersatz, u.a. ein Schmerzensgeld i.H.v. 40.000 €, eine mtl. Schmerzensgeldrente von 300 €, materiellen Schadensersatz von rd. 16.000 € sowie einen vierteljährlich mit 252 € auszugleichenden Haushaltsführungsschaden.
Das LG gab der Klage teilweise statt und sprach der Klägerin – unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens – 80 % ihres Schadens zu. Auf die Berufung der Beklagten änderte das OLG das Urteil ab und bewertete das Mitverschulden der Klägerin mit 1/3.
Die Gründe:
Der Beklagte hat den Unfall in erheblichem Umfang verschuldet, auch wenn er zunächst im Einmündungsbereich angehalten hat und dann langsam abgebogen ist. Gegenüber der Klägerin war er wartepflichtig. Die Klägerin hat ihr Vorfahrtsrecht nicht dadurch verloren, dass sie den kombinierten Geh- und Radweg entgegen der Fahrtrichtung befahren hat, obwohl dieser für eine Nutzung in ihrer Fahrtrichtung nicht mehr freigegeben war. Ein Radfahrer behält sein Vorrecht gegenüber kreuzenden und einbiegenden Fahrzeugen auch dann, wenn er verbotswidrig den linken von zwei vorhandenen Radwegen nutzt.
Die Klägerin ihrerseits hat den Unfall mitverschuldet, weil sie mit ihrem Fahrrad den an der Unfallstelle vorhandenen Geh- und Radweg entgegen der freigegebenen Fahrtrichtung befahren hat. Dass die Klägerin auf dem für ihre Fahrtrichtung nicht freigegebenen Weg erst wenige Meter zurückgelegt hatte, entlastet sie nicht. Sie befand sich verbotswidrig auf dem Radweg, den sie richtigerweise nur noch – ihr Fahrrad schiebend – als Fußgängerin hätte benutzen dürfen.
Demgegenüber rechtfertigt das Nichttragen eines Schutzhelms keine Anspruchskürzung zulasten der Klägerin. Zur Unfallzeit im Jahre 2013 bestand keine gesetzliche Helmpflicht für Radfahrer. Das Tragen von Fahrradhelmen entsprach auch nicht dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein; das hat der BGH noch im Jahre 2014, bezogen auf einen Unfall aus dem Jahre 2011, festgestellt. Anhaltspunkte dafür, dass sich das Verkehrsbewusstsein insoweit in den Jahren danach verändert hat, sind nicht ersichtlich.
Der Mitverschuldensanteil der Klägerin ist mit 1/3 zu bewerten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das der Klägerin nach wie vor zustehende Vorfahrtsrecht kein Vertrauen ihrerseits in ein verkehrsgerechtes Verhalten des Beklagten begründen konnte. Auch wenn der Beklagte mit seinem Fahrzeug zunächst vor dem querenden Geh- und Radweg angehalten hat, durfte die verkehrswidrig fahrende Klägerin ohne weitere Anhaltspunkte nicht davon ausgehen, dass der Beklagte sie wahrgenommen hatte und ihr den Vorgang einräumen würde.
Quelle: OLG Hamm PM vom 31.8.2017