OLG Hamm zur Rücksichtnahme bei gehbehinderten Fahrgästen

OLG Hamm zur Rücksichtnahme bei gehbehinderten Fahrgästen

Sturz im anfahrenden Linienbus – Keine generelle Rücksichtnahme auf gehbehinderte Fahrgäste
OLG Hamm 28.2.2018, 11 U 57/17
Der Fahrer eines Linienbusses darf den Bus nach dem Zustieg eines laut Schwerbehindertenausweis gehbehinderten Fahrgastes, dessen Einschränkung äußerlich nicht erkennbar ist, anfahren, bevor der Fahrgast einen Sitzplatz eingenommen hat. Allein die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G verpflichtet den Fahrer nicht zur besonderen Rücksichtnahme.
Der Sachverhalt:
Die seinerzeit 60 Jahre alte Klägerin aus Herne war im April 2016 in den vom zweitbeklagten Busfahrer gesteuerten Linienbus des erstbeklagten kommunalen Nahverkehrsbetriebs aus dem mittleren Ruhrgebiet eingestiegen. Sie ist aufgrund eines Hüftschadens zu 100 % schwerbehindert. Ihr Schwerbehindertenausweis ist mit dem Merkzeichen G versehen. Eine Gehhilfe benutzt die Klägerin allerdings nicht.
Beim Einstieg zeigte die Klägerin ihren Schwerbehindertenausweis vor, ohne den Busfahrer um eine weitere Rücksichtnahme zu bitten. Sie setzte sich sodann nicht auf den hinter dem Fahrer befindlichen, für Schwerbehinderte ausgewiesenen Sitzplatz oder einen anderen, nahegelegenen freien Sitzplatz, sondern ging durch den Bus, um sich auf einen Sitzplatz in der Nähe des ersten Ausstiegs zu setzen. Bevor die Klägerin sich jedoch setzen konnte, fuhr der Bus an. Hierbei stürzte die Klägerin so schwer, dass sie sich einen Oberschenkelbruch zuzog.
Später forderte die Klägerin von den Beklagten Schadensersatz, u.a. ein Schmerzensgeld i.H.v. 11.500 € und den Ausgleich eines Haushaltsführungsschadens von ca. 4.000 €. Sie war der Ansicht, dass der Busfahrer allein aufgrund des vorgezeigten Schwerbehindertenausweises mit dem Anfahren hätte abwarten müssen, bis sie gesessen hätte. Das LG wies die Klage ab. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin blieb vor dem OLG erfolglos. Die Entscheidung ist rechtskräftig.
Die Gründe:
Die Klägerin hat gegenüber den Beklagten keinerlei Schadensersatzansprüche.
Ein Fahrgast muss sich unmittelbar nach dem Zusteigen in einer Straßenbahn oder einen Linienbus sicheren Stand oder einen Sitzplatz sowie sicheren Halt verschaffen. Wer dies gerade in dem Zeitraum des besonders gefahrenträchtigen Anfahrens versäumt, muss ein erhebliches Mitverschulden in Kauf nehmen. Hinter diesem tritt die Betriebsgefahr des Verkehrsmittels regelmäßig völlig zurück.
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin gegen ihre Obliegenheit zur Eigensicherung verstoßen. Sie hatte nämlich keinen im Einstiegsbereich vorhandenen freien Sitzplatz eingenommen und sich beim Anfahren nicht hinreichend festgehalten. Zudem hatte sie den Busfahrer nicht darum gebeten, mit dem Anfahren abzuwarten, bevor sie Platz genommen hat.
Ein Verschulden des Busfahrers konnte überhaupt nicht festgestellt werden. Denn von einem Busfahrer, der auf andere Verkehrsteilnehmer und äußere Fahrtsignale achten muss, kann regelmäßig nicht verlangt werden, dass er zugestiegene Fahrgäste besonders im Blick behält. Eine solche Verpflichtung kann ausnahmsweise nur vorliegen, wenn für den Busfahrer eine schwerwiegende Behinderung des Fahrgastes erkennbar ist, nach der der Fahrgast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet scheint.
Ein solcher Ausnahmefall hat hier für den beklagten Busfahrer aber nicht vorgelegen. Denn die Klägerin hatte den Bus ohne erkennbare Probleme und ohne fremde Hilfe bestiegen und keinen der nahegelegenen, freien Sitzplätze eingenommen. Allein aus der Vorlage des Schwerbehindertenausweises – wobei offenbleiben konnte, ob die Klägerin tatsächlich auch die Rückseite mit dem Merkzeichen G vorgezeigt hatte – musste der Busfahrer nicht schließen, dass die Klägerin ohne eine besondere Rücksichtnahme gefährdet sein könnte.
Ein Schwerbehindertenausweis, auch ein solcher wie der der Klägerin, der zur unentgeltlichen Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs berechtigt, besagt nicht, dass auf den Inhaber beim Zusteigen in öffentliche Verkehrsmittel grundsätzlich besonders Rücksicht zu nehmen ist. So kann etwa von einem gehörlosen Menschen regelmäßig angenommen werden, dass er keiner besonderen Hilfe bedarf, um in einem Linienbus einen Sitzplatz einzunehmen.
Ein Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G erhält zudem auch ein primär in seiner Orientierungsfähigkeit gestörter Mensch, auf den bei der Sitzplatzeinnahme in einem Linienbus ebenfalls nicht besonders Rücksicht genommen werden muss. Somit ist von einer behinderten Person, die – wie die Klägerin – äußerlich keine Anzeichen für eine Gehbeeinträchtigung erkennen lässt, zu erwarten, dass sie den Busfahrer auf ihre Situation aufmerksam macht und ggfls. bittet, das Anfahren bis zur Einnahme eines Sitzplatzes zurückzustellen.
Quelle: OLG Hamm Pressemitteilung vom 20.4.2018