OLG Hamm zur Haftungsquote bei Überschreiten der Richtgeschwindigkeit

OLG Hamm zur Haftungsquote bei Überschreiten der Richtgeschwindigkeit

Überschreiten der Richtgeschwindigkeit muss keine Haftungsquote begründen
OLG Hamm 8.2.2018, 7 U 39/17
Verursacht ein vom rechten auf den linken Fahrstreifen einer Autobahn wechselnder Verkehrsteilnehmer einen Auffahrunfall, weil er den rückwärtigen Verkehr nicht beachtet, kann dem auffahrenden Verkehrsteilnehmer 100 %-iger Schadensersatz zustehen. Dies gilt selbst dann, wenn der Auffahrende die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h vor dem Zusammenstoß – maßvoll (hier: um 20 km/h) – überschritten hat.
Der Sachverhalt:
Der seinerzeit 30 Jahre alte Sohn des Klägers befuhr am 14.5.2015 mit dessen Seat die linke Fahrspur auf der BAB 31 in Bottrop und beabsichtigte, den auf der rechten Fahrspur mit seinem Dacia fahrenden, seinerzeit 45 Jahre alten Beklagten mit einer Geschwindigkeit von ca. 150 km/h zu überholen. Als sich das klägerische Fahrzeug dem Fahrzeug des Beklagten bereits genähert hatte, wechselte dieser ohne ersichtlichen Grund und ohne Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers auf die linke Fahrspur. Es kam zum Auffahrunfall, weil der Sohn des Klägers das klägerische Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig abbremsen und dem Fahrzeug des Beklagten auch nicht ausweichen konnte.
Später nahm der Kläger den Beklagten und den Haftpflichtversicherer des Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch. Das LG gab der Klage i.H.v. rund 7.640 € und somit in vollem Umfang statt. Das Gericht war Ansicht, der Beklagte habe den Unfall verschuldet, weil er den Fahrstreifenwechsel nicht rechtzeitig und deutlich angekündigt und auch nicht so ausgeführt habe, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen gewesen sei. Dass der Sohn des Klägers den Unfall durch das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit mitverursacht habe, rechtfertige aufgrund des groben Verschuldens des Beklagten keine Mithaftung des Klägers.
Mit ihrer gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegten Berufung machten die Beklagten geltend, dass das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit durch den Sohn des Klägers die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs so erhöht habe, dass eine Mithaftung des Klägers in Höhe 25 % gerechtfertigt sei. Das OLG hat die Berufung allerdings nach Hinweisbeschluss vom 21.12.2017 zurückgewiesen.
Die Gründe:
Dem Kläger steht der erstinstanzlich ausgeurteilte Schadensersatzanspruch aus dem Verkehrsunfall vom 14.5.2015 gem. §§ 7, 17, 18 StVG, bezüglich der Beklagten zu 2. i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG in voller Höhe zu.
Das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit begründete im vorliegenden Fall keine Mithaftung des Klägers. Dies folgte aus der gebotenen Haftungsabwägung. Danach traf den Beklagten ein erhebliches Verschulden. Denn aus Unachtsamkeit und ohne den rückwärtigen Verkehr zu beobachten hatte er sein Fahrzeug auf die linke Fahrspur herübergezogen.
Ein schuldhafter, den Unfall mitverursachender Verkehrsverstoß des Sohnes des Klägers konnte demgegenüber nicht bewiesen werden. Denn bei der vor den beiden Fahrzeugen freien Autobahn hat dieser nicht mit einem plötzlichen Spurwechsel des Beklagten rechnen müssen. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung war auf dem Streckenabschnitt der BAB nicht angeordnet, die nach den Angaben des Sohnes des Klägers gefahrene Geschwindigkeit von 150 km/h war mit den Straßen- und Sichtverhältnissen vereinbar gewesen. Eine höhere Geschwindigkeit des klägerischen Fahrzeugs konnte nicht festgestellt werden.
Die damit auf Seiten des Klägers zu berücksichtigende Betriebsgefahr seines Fahrzeugs fiel aufgrund des erheblichen Verschuldens des Beklagten im Abwägungsverhältnis nicht mehr ins Gewicht. Aus der maßvollen Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um 20 km/h hatte sich keine Gefahrensituation für den vorausfahrenden Beklagten ergeben. Im Unfall hatte sich die mit der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit für einen vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer häufig verbundene Gefahr, dass die Annäherungsgeschwindigkeit des rückwärtigen Verkehrs unterschätzt wird, nicht verwirklicht.
Vielmehr hat der Beklagte aus Unachtsamkeit und ohne den rückwärtigen Verkehr überhaupt zu beobachten einen ungewollten Fahrstreifenwechsel ausgeführt. Insofern hatte das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit für den Beklagten nicht gefahrerhöhend gewirkt. Davon durfte der Sohn des Klägers ausgehen. Er durfte aufgrund der freien Autobahn darauf vertrauen, dass der Beklagte den rechten Fahrstreifen nicht grundlos verlässt.
Quelle: OLG Hamm Pressemitteilung vom 8.3.2018